Borderline Beziehung – Borderline und Bindung – Teil 1

Borderline Beziehung - Bindung
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Was ist die so genannte Trauma Bindung bzw. das Trauma-Bonding? Diese Frage soll im folgenden Artikel beantwortet werden. Er ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird die Perspektive eines Menschen geschildert, der aufgrund komplexer Traumata* eine sogenannte Borderline-Störung entwickelt hat.

Im zweiten Teil wird komplementär zum ersten Teil, die Sicht der Person geschildert, welche sich in der Beziehung mit dem „Borderliner“ befindet. Der dritte Teil handelt schließlich vom Phänomen das als Trauma-Bindung oder Trauma-Bonding bezeichnet wird und warum dies zu einer tief empfundenen Verbundenheit führt, aus der man sich nur schwer lösen kann.

*In der ICD-11, die 2022 in Kraft tritt, gibt es erstmals die eigenständige Diagnose „komplexe posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS)“

„Bis der Trigger uns scheidet“

Lara ist 36 Jahre alt und hat als 25jährige die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung bekommen. Lara ist seit eineinhalb Jahren mit Sven zusammen. Sie ist in ihrem Job sehr erfolgreich, hat aber Schwierigkeiten in der Beziehung. Lara lässt uns Teil haben an ihrem inneren Leben und ihren Gedanken.

*Name von der Redaktion geändert

Borderline - Tagebuch
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Es ist das eine, mit einer Diagnose belegt zu werden, vielleicht noch ein wenig Literatur dazu zu konsumieren. Man tröstet sich damit, dass man eigentlich ganz gut funktioniert, hält die alten Narben für Ausrutscher der Jugend und die Sehnsucht nach den Extremen für ein Relikt der Kindheit.

Denkt vielleicht noch, dass die Diagnose irgendeine Form von Benennung ist für etwas, was man ohnehin nicht benennen kann – nämlich die eigene Persönlichkeit. Sinniert ein wenig darüber, wie Namen völlig überbewertet werden angesichts der Vielzahl von Aspekten einer Person; wie sie so wenig geeignet sind, Identitäten zu kennzeichnen als sie auch ungeeignet erscheinen, Identitäten zu bilden.

Ich musste mir eingestehen, dass ich bereits vor langer Zeit angefangen habe, zu akzeptieren, dass Wahrheiten nicht absolut sind und durchaus mehrere verschiedenartige nebeneinander oder hintereinander existieren können, auch wenn das mit Logik nichts zu tun hat. Ich weiß, weshalb meine Bewertungsstufen nicht von weiß nach schwarz über changieren, sondern in einem schwarz-weiß-marmorierten Fleckenteppich verharren.

Ich habe verstanden, was eine Identitätsstörung ist. Die schillernden Teile meiner Person, die ich gefunden habe, wollen einfach keine Einheit bilden, wenn ich sie visualisiere. Es sind viele, und ich krieg sie auch zusammenhängend, aber sie bleiben trotzdem unverbunden. Ich bin viele Möglichkeiten, das Potential ist da, aber wo ist das Sein? Ersatzweise definiere ich mich ein bisschen über Dinge, die ich gut kann, Dinge die ich habe, und Dinge, die ich sein möchte.

Ich weiß, weshalb ich diese schmerzhafte Zerrissenheit spüre, die mich teilweise über lange Phasen zum Nachdenken zwingt, wenn ich nicht irgendwo das Drama herbekomme. Aber das Drama ist sozialschädlich, und ich WILL mein soziales Umfeld nicht schädigen. Es ist schwierig, die Zerrissenheit einfach so wegzubekommen, fast unmöglich. Ich wünschte, ich hätte wenigstens ein einziges verlässliches Ventil, was nicht in irgendeiner Art und Weise schädlich ist. Sport o.ä. hilft hier nicht. Eigentlich hilft überhaupt nichts, was nicht extrem ist, mir fällt nichts ein.

Ich brauch es dann, dass jemand böse zu mir ist und ich weinen und mich als Opfer fühlen darf. Jedenfalls ist das der schnellste Weg zum inneren Frieden. Irgendwie erbärmlich.

Ich habe ein ganz großes Benefit der Störung verstanden – den Umstand, weshalb ich einen anderen fühlen kann wie mich selbst, wenn ich mich darauf konzentriere. Das ist beängstigend. Ich weiß positiv, dass andere in meinem Umfeld das nicht können. Andocken, ja? Das war schon in meiner Jugend so. Wenn ich anderen Dinge antat, war es, als würde ich es selbst fühlen, ganz krass.

Als einigermaßen vernunftbegabter Mensch ist das schon für mich selbst harter Tobak. Ich kann auch nicht verstehen, weshalb mein Partner sich die Auswüchse antut. Er könnte meiner Meinung nach von seinen masochistischen Trieben Abstand nehmen und sich in jemand anderen verlieben. Nicht dass ich der Ansicht wäre, eine andere wäre besser, aber sehr wohl der Ansicht, besser für ihn.

Das einzige, was nach außen hin offenkundig in meinem Leben behindert, ist, dass ich Beziehungen nicht einfach so führen kann. Ich will nicht ohne den Thrill, die Verlustangst, das Drama. Ich kann dann nicht, und zwar gar nichts. Vor allem nicht fühlen, das ist das allerschlimmste. Und es tut mir jedes Mal so leid für meinen Partner, wenn ich nichts fühle, weil mir nichts weh tut.

Borderline Beziehung Streit
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Es ist schon wieder passiert. Gerade wenn alles gut zu laufen scheint…

Lara und Sven sind gerade im Urlaub in einem Restaurant. Auf dem Weg ins Restaurant, teilt Sven Lara mit, dass er auf einen wichtigen Anruf von seinem Geschäftspartner wartet. Es handle sich um einen großen Auftrag und wäre ein riesiger Schritt in seinem Geschäftsleben.

Bisher ist es ein entspannter Abend in einem entspannten Urlaub. Als das Essen zum Tisch kommt, klingelt Svens Handy. Er sagt Lara, dass es der Anruf sei, auf den er warte. Sven steht auf um ein paar Meter vom Tisch wegzugehen, da die Musik am Tisch etwas laut ist.

Am Telefon ist sein Geschäftspartner. Das Gespräch dauert ca. 15 Minuten. Für Lara eine gefühlte Ewigkeit. Als Sven zurück zu dem Tisch eilt um Lara die gute Nachricht mitzuteilen, fängt Lara an, ihn anzuschreien und zu beschimpfen:

„Nie mehr werde ich mit Dir irgendwo hingehen! Du lässt mich hier alleine sitzen um Gott weiß mit wem reden zu können.

Ich halte das nicht mehr aus. Kannst alleine hierbleiben. Ich habe den ersten Flieger morgen früh gebucht, Du egoistisches Schwein. So was wie Dich tue ich mir nicht mehr an! F*** Dich.“
Lara steht auf und geht.

„Ach übrigens, ich habe mir ein Zimmer am Flughafen gebucht, während Du Dich am Telefon amüsiert hast. Leb wohl Du Ar****.“

Sven ist wie erstarrt. Er wollte nur die Freude mit Lara teilen, einen großen Auftrag bekommen zu haben und wurde nun beleidigt und angeschrien. Sven bleibt sitzen, denn er wusste aus vielen vorherigen Situationen, dass es nichts bringt hinterher zu laufen. Oder doch?

Als er eine Stunde danach Lara anruft, schreit sie in den Hörer:

Was willst du? Erst jetzt anrufen? Na, hast du wieder telefoniert als ich weg war? F*** dich.“ – aufgelegt.

Sie blockiert Sven auf ihrem Handy. 

Nachdem Lara aufgelegt hat, bricht sie zusammen. Ein altbekannter Schmerz umhüllt ihren Körper. Ein emotionaler Flashback wirft sie um viele Jahre zurück. Ein Teil von ihr, aus ihrer Vergangenheit ist wieder mal aktiv geworden Im Hier und Jetzt.

Lara ist 36 Jahre alt und sie weiß was mit ihr los ist und wieso ihre Reaktionen manchmal sehr heftig sind. Dennoch sind diese nur sehr schwer regulierbar.

Borderline flashback
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Warum ist es für Lara so schwer sich zu regulieren, obwohl sie weiß, was in ihr vorgeht?

Ein emotionaler Flashback ist ein plötzlich auftretender, oft länger anhaltender, überwältigender, emotionaler Zustand, den ein misshandeltes, missbrauchtes, vernachlässigtes oder verlassenes Kind erlebt hat.

Es ist ein Zurückwerfen in den alten emotionalen Zustand des Kindes in der kritischen Situation, mit all seinen körperlichen und seelischen Erinnerungen, der mit der momentanen Situation im Hier und Jetzt nichts zu tun hat.

Die Situation auf welcher dieser Zustand zurückzuführen ist, ist den Betroffenen meistens nicht bewusst erinnerbar.  Während eines Flashbacks werden u.a. erdrückende Furcht, Scham, Todesangst, Entfremdung, Wut empfunden.

Mit Auftreten des Flashbacks wird ein Teil der Persönlichkeit reaktiviert, der in der frühen Kindheit nicht integriert werden konnte.

Integration Borderline
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Unsere Integrationsfähigkeit hilft uns die Vergangenheit von der Gegenwart zu unterscheiden. Sie hilft uns in der Gegenwart zu bleiben, wenn wir uns an die Vergangenheit erinnern.

Integration bedeutet im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung, alle unsere Persönlichkeitsaspekte zu vereinen, so dass sie auf kongruente Weise funktionieren. Integration hilft uns weiter ein Selbstgefühl zu entwickeln. Es gibt ein „Selbst“, das alle Facetten der Persönlichkeit umfasst. Es ist authentisch und integer.

Je sicherer und zuverlässiger unsere emotionale und äußere Umwelt in der wir aufwachsen ist, desto besser kann sich die Integrationsfähigkeit entwickeln und entfalten.

Im Gegensatz zur Integration steht die Dissoziation. Diese resultiert aus fehlender oder nicht entwickelter Integrationsfähigkeit, die unser Selbstgefühl und unsere Persönlichkeit beeinflusst.

Wenn man traumatisiert ist, kann die Integrationsfähigkeit chronisch beeinträchtigt werden.
Das ist der Grund, warum sich Menschen mit Borderline und komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (KPTBS) nicht in sich integriert, sondern fragmentiert fühlen.

Gehirnregionen
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Wenn etwas Unerwartetes passiert und Sicherheit und/oder Bindung bedroht werden, haben wir unterschiedliche Bewältigungsmechanismen zur Verfügung. Zuerst aktiviert sich unser Bindungssystem. Man reagiert mit dem Bindungsschrei (Schrei nach der Mutter –„Mama“). 

Wir suchen reflexartig Hilfe und Unterstützung um Sicherheit zu spüren und beschützt zu werden. Gelingt das nicht, schalten wir um auf naturimmanente Überlebensmechanismen: Flucht oder Angriff.

Wenn diese auch nicht greifen, dann schaltet der Organismus um auf Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein (innere Lähmung). Besteht die Gefahr weiterhin, schaltet schließlich unser Nervensystem in den Freeze Modus (Erstarrung und Kollabieren).

Gedanken, Gerüche, Gefühle, Bilder, Körperempfindungen, Affekte und Zustände werden immer fragmentiert, zersplittert und in verschiedenen Hirnregionen abgespeichert. Das Erfahrene bleibt im Traumatisierten unwirklich und fremd und „wächst“ nicht mit. Es bleibt eingefroren und kann zeitlich nicht eingeordnet werden.

Bei nicht traumatisierten Menschen werden diese abgespeicherten Informationen integriert, als ein Erinnerungsstrang , ein Narrativ gespeichert.

Im traumatisierten Menschen funktioniert das eben nicht, bei dem ist das ganze voneinander abgespalten, es ergibt kein ganzes Erlebnis, keine Geschichte.

Die traumatischen Erfahrungen können deshalb nicht als ein in sich geschlossenes Erlebnis im Erinnerungsspeicher abgelegt und integriert werden.

Diese abgespaltenen, dissoziierten Erinnerungsfragmente gelangen, ausgelöst durch Trigger, in die Gegenwart. Sie treten im Hier und Jetzt auf und werden immer wieder er-LEBT anstatt er-INNERT. Diese Fragmente führen eine Art Eigenleben, sie überwältigen die Person. Sie wiederholen sich unabhängig davon ob die Umgebung in dem Moment sicher ist. Die Betroffenen reagieren oft in Alltagssituationen als würde weiterhin eine lebensbedrohliche Situation bestehen. Das Vergangene ist für sie vom Gegenwärtigen in diesem Moment nicht zu unterscheiden.

„Trauma äußert sich nicht als Erinnerung, sondern als Reaktion“ – Dr. Gabor Maté

Borderline - Kindheit
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Lara 35 Jahre zuvor…

Laras Mutter war Alkoholikerin und alleinerziehend. Sie empfand Lara meistens als nervig. Stundenlang telefonierte sie, während Lara schrie. Ihre Mutter ging sogar in ein anderes Zimmer um das „nervige Schreien“ nicht hören zu müssen.

Was passiert in so einem Kind?

Das Kind hat große Angst und sucht nach Kontakt und Verbindung. Das Kind sucht nach Sicherheit. Bindungsschrei. Die Mutter reagiert nicht. Das Kind versucht noch lauter zu schreien um in Verbindung mit der Mutter herzustellen.

Lara wurde als Kleinkind oft angeschrien und wenn  sie daraufhin weinte, wurde sie von ihrer Mutter in ihr Zimmer geschickt. Sie hätte keinen Grund zum Weinen, schrie ihre Mutter ihr hinterher.
Es gab auch gute Tage an denen Laras Mutter sehr lieb und fürsorglich war. Lara wusste aber, dass es jeden Moment wieder anders werden konnte. Lara stand unter dauerhafter Anspannung und Stress, da sie nie wusste wie ihre Mutter reagieren würde.

Kinder fühlen sich bedroht, wenn die Bindung zur und von der Mutter oft unterbrochen und nicht rechtzeitig wiederhergestellt wird. Wenn die Resonanz zur Mutter fehlt, fühlt sich das Kind nicht mehr verbunden und wird zu einem Objekt.

Was passiert mit den Zuständen (Angst, Schuld, Schrecken, Todesangst, Verzweiflung, Einsamkeit, Hilflosigkeit, Schmerz) die während der Einwirkung von hohem Stress auf das Kind entstehen?

Diese bleiben tief in der Persönlichkeit eingefroren. Das Kind konnte seine Gefühle nicht ausdrücken, nicht mitteilen und hatte keine Hilfe in der Verarbeitung. Es musste sie in sich „verschwinden“ lassen. Und dort bleiben sie im schlimmsten Fall ein Leben lang. Eine tiefe strukturelle Dissoziation entsteht. Diese Teile wachsen nicht mit bzw. entwickeln sich nicht mit der Persönlichkeit weiter.

Nach der Theorie der strukturellen Dissoziation* wird eine traumabedingte Spaltung der Persönlichkeit erzeugt.  Dabei entstehen mindestens zwei Anteile : Der ANP (anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil) und die EPs (emotionale Persönlichkeitsanteile).

Der ANP ist ein angepasstes und „gutes Kind“, das alles tut um die Bindung zu den Eltern (oder anderen primären Bezugspersonen) aufrecht zu erhalten. Die EP, eventuell mehrere EPs, beherbergen alle unerfüllten Bedürfnisse, Gefühle und Zustände wie Einsamkeit, Scham, Leere…
Der ANP hat die Aufgabe die Alltagsfunktionen zu erhalten und alles zu meiden was mit EPs zusammenhängt.

* Die Theorie der strukturellen Dissoziation wurde unter anderem von Ellert Nijenhuis, Onno van der Hart und Kathy Steele durch jahrelange Beobachtungen und Erforschung von dissoziativen Störungsbildern entwickelt.

„Chronisch Traumatisierte befinden sich in einem schrecklichen Dilemma. Einerseits verfügen sie nicht über eine adäquate Integrationsfähigkeit, und anderseits vermögen sie ihre entsetzlichen Erlebnisse und Erinnerungen nicht vollständig zu realisieren. Trotzdem müssen sie ihr Alltagsleben bewältigen, indem manchmal die Menschen, die sie missbraucht, misshandelt oder vernachlässigt haben, weiterhin eine Rolle spielen. Das Sinnvollste, was sie tun können, ist, die ungelösten und schmerzhaften Traumata, die sie in der Vergangenheit haben und möglicherweise auch in der Gegenwart noch erleben, mental zu vermeiden und, so gut es geht, eine Fassade der Normalität aufrecht zu erhalten. Doch trotz ihrer scheinbaren Normalität ist ihr „Leben an der Oberfläche des Bewusstseins“ (Appelfeld 1994) ständig gefährdet…“

Quelle: „Das verfolgte Selbst“ Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung; Onno van der Hart, Ellert R.S. Nijenhuis & Kathy Steele

Lara hat große Angst, bekommt aber vermittelt, dass es nicht richtig sei was sie fühlt. Als Kind glaubt Lara ihrer Mutter und fängt an sich so zu verhalten wie die Mutter es will, um Schmerzen und Angst zu vermeiden und damit Sicherheit zu erfahren.

Das Kind sucht verzweifelt Wege, um in Bindung mit der Mutter zu bleiben oder die Bindung, die unterbrochen wurde (durch Telefonat, Schreien, in anderes Zimmer gehen usw.) schnell wieder herzustellen.

Lara spaltet sich in zwei Teile. Der eine Teil hat große Angst und ist ausgeliefert. Der andere Teil identifiziert sich mit der Mutter.

Die Identifikation mit der Mutter bringt ihr etwas Sicherheit um die Unberechenbarkeit der Mutter berechenbarer zu machen. So kann Lara als „gutes Mädchen“ agieren indem sie sich durch die Identifikation auf die Bedürfnisse der Mutter einstellen kann.

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Lara bricht im Hotelzimmer zusammen. Sie fühlt sich abgeschnitten und verlassen und spürt einen starken körperlichen Schmerz. Der Trigger durch den Lara in diesen Zustand geriet war, als Sven aufstand und sich vom Tisch entfernte – um zu telefonieren!

Sie wusste zwar, dass Sven einen Anruf erwarten wird, konnte sich aber trotzdem der Wirkung des Triggers nicht entziehen.

Mit Einsetzten des Triggers wechselt sie unbewusst in einen emotionalen, kindlichen Persönlichkeitsanteil. Das passiert schneller als Lara denken kann.

Lara durchlebt die Gefahr, Angst und den Schmerz genauso stark wie damals als Kind. Ihr ist nicht bewusst, dass es sich dabei um einen emotionalen Flashback handelt, bei dem ein EP reaktiviert wurde.

Lara schildert die Erinnerung an die Situation im Hotelzimmer später wie folgt:

„Ich fühlte mich von Sven verlassen. Ich war ihm egal. Fühlte mich auf einmal abgeschnitten und ich war mir sicher, dass er mit einer anderen Frau redet. Er lächelte während er telefonierte. Ich hasste ihn dafür. Ich, verlassen und einsam und er lächelt. Als er an den Tisch kam, war es schon zu spät. Ich musste weg. Die Situation konnte ich nicht mehr ertragen. Ich musste weg. (Als er an den Tisch kam, war es schon zu spät.)

Heute weiß ich, dass ein alter, unbewusster Teil meiner Persönlichkeit mich überfiel. In dem Moment fühlte es  sich so real an.

Es passiert immer wieder und diese Ereignisse bleiben fest in meiner Erinnerung als reale Begebenheiten gespeichert. Jedes Mal. Und mit jedem Mal wird es schlimmer, denn es kommen immer wieder Situationen vor, wo ich mich von Sven verlassen fühle. Ich fühle mich immer mehr von ihm distanziert und kann ihm immer weniger vertrauen.

Als Sven ins Hotel kam um mit mir zu reden, war er mir fremd. Ich hasste ihn und gleichzeitig wollte ich, dass er mich in Arm nimmt und mir sagt, dass alles gut wird. Ich beschimpfte ihn und schlug um mich. Ich schrie er solle weggehen und wollte eigentlich, dass er bleibt und mich überzeugt, dass ich ihm wichtig bin. Ich weinte und schrie und als er dann wegging, brach ich wieder zusammen. Ich dachte ich muss sterben.

Ich rief ihn an und wollte, dass er wiederkommt, aber aus mir schrie es und ich beschimpfte ihn.
Er kam nicht. „

Die schlimmste Folge von frühen chronischen Beziehungstraumata ist die fehlende Fähigkeit, gesunde Beziehungen einzugehen und aufrecht zu erhalten. Der Bindungsstil dieser Menschen ist häufig geprägt von einer gleichzeitigen dissoziativen Aktivierung oder einem Alternieren zwischen Annäherungs- und Vermeidungsstrategien –  sie stehen dann symbolisch gleichzeitig auf dem Gas und der Bremse. Dieser chronische Konflikt führt einerseits zu einem phobischen Vermeiden von wirklich nahen Beziehungen, und anderseits droht in den existierenden Beziehungen ständig das Ende.

Beziehungsthemen sind oft starke Trigger und Auslöser für sehr früh in der Entwicklung sich zeigende Abwehrmechanismen, zum Beispiel Klammern, Abhängigkeiten, pausenloses Rufen nach dem Andern (per Telefon oder via moderne Kommunikationswege) oder das Kreieren von Krisen, um dadurch Aufmerksamkeit zu bekommen. Bindungsversuche werden so maximiert, Nähe durch äußerst heftige Abwehrreaktionen zur Mobilisierung und zur Immobilisierung gleichzeitig möglichst minimiert. – Kathy Steele

Lara bleib im Zimmer und konnte sich nicht beruhigen. Auf einmal fühlte sie nichts mehr. Leer.

„Plötzlich fühlte ich nichts mehr. Ich fühlte mich leer. Wie ausgeschaltet. Alles war weit entfernt. Kalt. Fremd.
Irgendwann schlief ich ein. Es war alles egal aber auch erleichternd nichts mehr zu fühlen.

Sven rief mich am nächsten Morgen an. Er fragte wie es mir ginge. Er erschien mir sehr fremd. Seine Stimme weit entfernt. Ich sagte ihm, dass ich nach Hause fliegen werde und dass er bleiben könne. Mir war es egal was er macht und wo er ist. Ich hörte ihn sprechen, könnte ihm aber nicht zuhören. Ich sagte ihm, dass ich nicht mehr reden könne. Es war anstrengend. Ich war erschöpft.

Ich trennte mich dieses Mal nicht,  weil ich nicht wusste ob ich es danach bereuen werde.

„Undurchdringliche Eiswände vergewaltigen den Atem

Zersetzen Farben in grau 

Verschlingen das Jetzt und das Nachher Im Vorher“ 

Johanna Vetter, 2005, S.30

Etwas in mir flüsterte: Mach es nicht, vielleicht wird es wieder anders…

Auf der einen Seite tat mir Sven leid, weil ich unsicher war ob ich ihm Unrecht tat, auf der anderen Seite kamen Situationen hoch, in denen er mich verletzt hatte. Manchmal fühlte ich auch seinen Schmerz und seine Hilflosigkeit. Manchmal fühlte ich mich an ihn wieder gebunden, weil ich seinen Schmerz fühlte…

Fehlregulation der Affekte und Impulse
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Wenn die Persönlichkeit dissoziativ organisiert ist, ist man ist anfällig für unvorhergesehene Stimmungswechsel. Sobald die Betroffenen in Stress geraten, können die unterschiedlichen emotionalen Persönlichkeitsanteile (EPs) reaktiviert werden.

Anderen Menschen zu vertrauen ist besonders schwer, wenn man in der Kindheit wiederholt missbraucht, betrogen oder allein gelassen wurde.

Mache Anteile scheinen niemandem zu vertrauen und mache sind sehr verletzlich und bedürftig. Manche Anteile suchen die Nähe, während andere Anteile sich davor fürchten. Manche Anteile haben Angst vor Beziehungen, andere haben Angst vor der Zurückweisung.

Menschen mit Borderline Störung entwickeln voneinander isolierte, unerträglich intensive Emotionen die sich fragmentiert in verschiedenen Persönlichkeitsanteilen befinden. Anteile die für Alltagsleben zuständig sind (ANP) empfinden kaum Gefühle, weil sie gelernt haben, Emotionen zu vermeiden. Unter Umständen nehmen sie Gefühle als „alles oder nichts“ wahr. Entweder fühlen sie sehr starke Emotionen oder gar keine. Entweder Überregung oder Untererregung. Es findet keine Balance zwischen den Zuständen statt, da keine Selbstregulation möglich ist.

„Die Strukturelle Dissoziation“ ist eine bestimmte Organisationsform, bei deren Vorliegen verschiedene psychobiologische Subsysteme der Persönlichkeit unverhältnismäßig starr und füreinander unzugänglich sind. Die Folge ist ein Mangel an Kohärenz und Koordination innerhalb der Gesamtpersönlichkeit der Traumatisierten.

Dissoziation kann in unendlich viele Varianten zum Ausdruck gelangen.


Die primäre strukturelle Dissoziation – die einfachste, grundlegende traumabedingte Spaltung der Persönlichkeit erzeugt einen einzelnen ANP und einen einzelnen EP. Dies bezeichnen wir als primäre strukturelle Dissoziation:

Ein dominierender ANP und ein EP, der oft nicht besonders stark entwickelt und autonom ist

  • Einfache Formen der akuten Belastungsstörung
  • Einfache Formen von PTBS
  • Einfache Formen dissoziative Störungen nach den DSM-IV-Definitionen
  • Einfache Formen dissoziative Bewegungs- und Empfindungs-Störungen nach den ICD-10 Definitionen

Die sekundäre strukturelle Dissoziation
Wenn die negativen Auswirkungen traumatisierender Ereignisse stark zunehmen oder wenn sie länger anhalten, kann es zu erneuten Teilung des EP kommen, wovon der einzige existierende ANP unberührt bleibt. Diese sekundäre strukturelle Dissoziation entsteht aufgrund des Fehlschlagens der Integration verschiedenartiger Abwehrstrukturen denen unterschiedliche psychobiologische Konfigurationen zugrunde liegen, was unterschiedliche Kombinationen von Affekten, Kognitionen, Wahrnehmungen und motorischer Handlungen einschließt. Bei diesen Abwehrstrukturen handelt es sich um Zustände wie Erstarren, Kampf, Flucht und völlige Unterwerfung.

Ein dominierender ANP und mehrere EPs, die höher entwickelt und autonomer sein können als in Fall der primären strukturellen Dissoziation, die aber gewöhnlich weniger entwickelt und weniger autonom sind als im Falle einer tertiären strukturellen Dissoziation

  • Komplexe PTBS
  • Nicht näher spezifizierte Störungen infolge extremer Belastungen
  • Nicht näher spezifizierte traumabezogene Störung
  • Traumabezogene Borderline-Persönlichkeitsstörung
  • Komplexe dissoziative Bewegungs- und Empfindungsstörungen nach ICD-10-Definition

Die tertiäre strukturelle Dissoziation:
Mehr als ein ANP und mehr als ein EP, oft sind mehrere ANPs und EPs ausgeprägter und autonomer (was den Gebrauch verschiedener Namen und unterschiedliche körperliche Merkmale einschließt) als im Falle der sekundären strukturellen Dissoziation.

  • Dissoziative Identitätsstörung (DIS)“

Quelle: „Das verfolgte Selbst“ Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung; Onno van der Hart, Ellert R.S. Nijenhuis & Kathy Steele

Ich trennte mich dieses Mal nicht.

Etwas in mir flüsterte: Mach es nicht, vielleicht wird es wieder anders…

Da ist doch dieses „Etwas“ das es anders machen kann als zuvor. Eine Weiterentwicklung. Eine Hoffnung.

Anmerkung: Borderline Beziehung – Partner – Teil 2

Suzana Pavic wurde 1969 in Split/Kroatien geboren und lebt seit 1996 in Deutschland. Die Kriegsereignisse im früheren Jugoslawien und die damit verbundenen Grausamkeiten, zu denen Menschen fähig sind, brachten sie dazu, sich eingehender mit der menschlichen Psyche zu beschäftigen und letztendlich die Ausbildung für Psychologische Beratung und Psychotherapie zu machen. Heute ist sie als Heilpraktikerin für Psychotherapie und Psychologische Beraterin tätig mit dem Schwerpunkt der Beratung von Menschen, die sich in problematischen Beziehungen befinden oder Schwierigkeiten haben, mit einer Trennung zurechtzukommen. Aufgrund eigener Erfahrungen beschäftigt sie sich seit 2004 sehr intensiv mit dem Thema Borderline und ist auch ehrenamtlich in einigen Projekten engagiert. Ihr Buch basiert auf ihren Erfahrungen und den Erfahrungen und Erlebnissen anderer Menschen, die sie durch ihre Tätigkeiten kennen lernen und begleiten durfte. Weitere Informationen über Frau Pavic und ihre Arbeit sind auf ihrer Seite www.suzana-pavic.de, www.borderline-spiegel.de und www.borderline-beratung.com zu finden.

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7 Kommentare

  1. Ein total verständlicher Artikel ….. sehr gut beschrieben alles. Bin schon auf die nächsten 2 gespannt und freue mich darauf.

  2. Wie meine Ex Freundin! Leider ex. 1:1
    Meine ex wusste aber nicht was sie hat. Ich war immer schuld.
    Ich bin gespannt auf die Fortsetzung.
    Ich finde diesen Text sehr gut und verständlich. Leider zwei Jahre zu spät. Wir waren 2,5 Jahre zusammen. Sie hat mich x mal verlassen gehabt. Ich habe immer noch dran zu knabbern :-(
    Gruß und danke für tolle Erklärung
    Daniel

  3. Ein gelungener Artikel! Ich bin borderlinerin und ich hätte es nicht besser beschreiben können. Durch den Artikel kann ich mich besser verstehen.
    Karin

  4. Ich finde , dass der Artikel noch viel mehr Beachtung finden sollte, denn er zeigt unumstrittene Fakten, ohne Extreme zu präsentieren. Er strukturiert die Problematik mit sehr aktuellen Erkenntnissen
    Ich bin auf die weiteren Teile sehr gespannt. Denn die sind für mich gerade in Hinsicht auf KPTBS sicher auch wieder sehr aufschlussreich.

    Hohe Achtung vor der Autorin und ihrem Engagement

  5. Ein sehr komplexes Thema klar und einfach erfasst. Ich selbst bin Psychotherapeut und die Beitrage von Frau Pavic helfen mir sehr, nicht nur BPS besser zu verstehen, sonder auch allgemein das Thema Mensch und Entwicklung.
    Ich bin sehr dankbar für die wertvolle Texte. Weiter so.
    A. L.

  6. Großartig! Frau Pavic klar und deutlich wie immer. Komplexes Thema gut und klar aufbereitet ohne oberflächlich zu sein. Bitte mehr davon.

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