
Anna sitzt da, ihre Stimme ruhig, fast zärtlich, als sie von diesem Moment erzählt:
„Als er zurückkam, war es wie ein Aufwachen aus einem Albtraum. Ich war so glücklich. Wirklich. Es war, als hätte jemand den Stecker wieder eingesteckt, ich konnte atmen, essen, schlafen. Alles fühlte sich lebendig an. Aber… ein Teil von mir war gleichzeitig wie betäubt. Unsicher. Misstrauisch, mir selbst gegenüber. Es war Nähe da, ja. Aber sie war anders. Wie durch eine unsichtbare Scheibe. Ich wollte sie nicht zerbrechen, also habe ich versucht, ganz vorsichtig zu sein. Ich habe ihn beobachtet, jede kleine Regung, und mich selbst gleich mit.“
„Ich wollte nichts mehr falsch machen.“
Diese Rückkehr, so ersehnt, so intensiv, war nicht das Ende des Schmerzes. Es war der Auftakt einer neuen Dynamik. Einer, die sich so vertraut anfühlte, dass sie nicht sofort bewusst auffiel.
Denn nun betrat Anna, wie von selbst, wieder die Bühne ihrer alten Rolle.
Die Angepasste. Die Sanfte. Die, die sich klein macht, damit niemand geht.
Mit Carmen telefonierte sie nur wenn Lars nicht in der Nähe war.
Sie lachte, aber nie zu laut.
Freude, Leichtigkeit, sogar Erfolg, all das begann sie leise zu halten. Fast wie im Flüsterton.
Nicht, weil er es verlangte, sondern weil ihr inneres System längst in Habachtstellung war.
Die Angst vor dem nächsten Bruch war nicht mehr laut, aber allgegenwärtig.
Wie ein stilles Grundrauschen unter allem.
Wie eine innere Botschaft, kaum hörbar, aber bestimmend:
„Wenn du ganz du selbst bist – verlierst du ihn wieder.“
Nicht als bewusste Entscheidung, sondern als automatische Bewegung zurück in eine alte Überlebensstrategie.
Ein inneres Drehbuch, das schon lange vor Lars geschrieben wurde.
Das kleine Mädchen in ihr hatte früh gelernt:
Nähe kann plötzlich wegbrechen.
Und deshalb übernimmt jetzt wieder ihre alte Rolle, die Angepasste, die Rücksichtsvolle, die, die sich selbst zurückstellt, um bloß niemanden zu verärgern.
Auch in Lars beginnt sich etwas zu verändern.
Nicht laut, nicht sichtbar, aber spürbar.
Sein System registriert Annas Unsicherheit.
Obwohl er sie vermisst hat, reagiert sein Körper unbewusst auf die veränderte Atmosphäre: Er wird wachsamer, innerlich angespannter, denn auch in ihm ist etwas passiert. Ein Bruch im scheinbar Selbstverständlichen.
Die Beziehung ist nicht mehr frei und fließend, sie ist nun mit Bedeutung aufgeladen, mit Geschichte, mit Vorsicht.
Unbewusst schaltet sich bei Lars ein bekanntes Muster ein: Beobachten. Scannen. Kontrollieren.
Nicht, weil er ihr misstraut, sondern weil Misstrauen in seinem System längst zur Schutzfunktion geworden ist. Sein Nervensystem kennt keine sichere Bindung.
Es hat früh gelernt: Nähe ist unvorhersehbar. Plötzlich zu viel. Plötzlich weg.
Und so taucht er nun ebenfalls in seine alten inneren Rollen ein: Der Unberührbare. Der Ruhige. Der, der Kontrolle behält.
Nicht, weil er nichts fühlt, sondern weil Fühlen zu riskant wäre.
In dieser stillen Spannung begegnen sich nun zwei Menschen, die sich im Kern nach Verbindung sehnen, aber unbewusst beginnen, sich voneinander abzusichern.
Und genau dort beginnt die eigentliche Reinszenierung.
Nicht mit einem Streit, sondern mit dem leisen Rückzug in innere Schutzstrategien.
Zwei Nervensysteme, die sich nicht mehr frei begegnen, sondern beginnen, aufeinander zu reagieren, als wäre das nächste Ungleichgewicht nur eine Frage der Zeit.
Jede kleine Unregelmäßigkeit wird zum möglichen Auslöser.
Kommt Anna ein paar Minuten später als angekündigt, spürt sie, wie seine Stimmung kippt. Also beginnt sie, sich regelmäßig zu melden. Wo sie ist. Wann sie kommt. Mit wem sie war.
Nicht weil sie will, sondern weil ihr System längst gelernt hat: Sicherheit entsteht durch Vorbeugung.
Der Knall – der Moment, der Anna in Therapie führte
„Ich kam gerade aus der Dusche. Es war ein ganz normaler Abend.
Er hatte mir Tee gemacht, saß im Wohnzimmer, irgendwie versunken in irgendeiner Serie.Ich weiß noch, dass er mich umarmt hat, so wie früher. Es war ruhig. Vertraut.
Ich hatte kurz das Gefühl, vielleicht wird alles wieder gut.“
Dann stockt sie.
„Und dann… ploppte einfach eine Nachricht auf seinem Handy auf.
Eine Frau. Sandra. Ich habe nur gelesen: ‚Warum meldest du dich nicht mehr? Ich vermisse dich.‘ In mir ist in dem Moment alles erstarrt. Mein Magen, mein Herz, mein Atem.
Ich weiß nicht mal, ob ich es hören oder schreien wollte – aber ich hab einfach gefragt:‚Wer ist das?‘“
Was dann kam, war wie ein Schlag.
„Er sprang auf. Ganz plötzlich. Laut. Hart.
‚Was denkst du eigentlich? Dass ich dir fremdgehe? Willst du mich kontrollieren? Was bist du für eine?!‘
Es war, als würde sich seine ganze Energie gegen mich richten.
Ich war wie erstarrt. Es war, als würde plötzlich ein ganz anderer Mensch vor mir stehen.“
„Sein Blick, sein Ton – alles war fremd.“
„Ich hatte keine Chance mehr. Ich wusste, jetzt darf ich bloß nichts Falsches sagen.“
„Also habe ich mich zurückgezogen. Innerlich abgeschaltet. Wieder still geworden. „Ich war aufgestanden. Mein Herz raste. Alles in mir wollte einfach nur raus aus dieser Situation. Weg von ihm. Weg von dieser Angst.
Er war wütend geworden, laut.
Am Ende hatte er noch ein Glas vom Tisch gefegt, das scheppernd am Boden zerschellte – und war einfach gegangen.
Wieder einmal. Ohne Erklärung. Ohne Halt.“
Trotz dem was passiert war, hat sich der Gedanke, ihn zu verlieren, wie ein innerer Zerfall angefühlt.
Wie ein Schnitt durch eine Verbindung, die längst über das Sichtbare hinausging.
„Ich wusste, dass ich mich trennen sollte, aber allein der Gedanke daran hat mir körperlich wehgetan.“
Es war, als würde ihr ganzes System rebellieren – nicht aus Liebe, sondern aus Bindung. Aus alter Angst.
Der Schmerz, bei ihm zu bleiben, war groß. Aber der Schmerz, ihn zu verlieren, war größer.
Und genau das war der Moment, der sie in die Therapie brachte.
Ein alter Film auf neuer Bühne
Was hier passiert, ist keine normale Auseinandersetzung.
Es ist eine emotionale Reinszenierung.
In Lars wird in dieser Sekunde wieder Mal eine alte Rolle aktiviert:
Der Junge, der ertappt wurde – beim Lügen, beim Klauen, beim heimlichen Tun.
Es ging nie nur um das, was er getan hatte.
Es ging um das tiefliegende Gefühl:
Ich bin falsch. Ich bin nicht richtig. Ich bin beschämend.
Ein Schamgefühl, das sich nicht auf eine Tat bezog, sondern auf sein ganzes Sein. Und genau diese Scham war damals unerträglich. Also lernte er, sich blitzschnell zu verteidigen, bevor er überhaupt fühlen konnte. Wut wurde zur Tarnung. Angriff zur Flucht. Denn besser wütend – als hilflos. Besser laut – als entblößt.
Wenn Persönlichkeit zum Schutzschild der Scham wird
Scham ist eines der frühesten und tiefgreifendsten Gefühle, die ein Kind erleben kann – oft lange, bevor es Sprache für das hat, was es da fühlt.
Anders als Schuld, die sich auf etwas bezieht, das wir getan haben, sagt Scham:
„Mit mir stimmt etwas nicht.“
Wenn ein Kind immer wieder die Botschaft bekommt: „So wie du bist, bist du falsch“, beginnt es, sich selbst zu verlassen. Nicht sichtbar sein. Nicht laut sein. Nicht zu viel sein. Um die Bindung zu den Bezugspersonen zu retten, formt es eine Persönlichkeit, die anpassbar, freundlich, leistungsstark oder unauffällig ist – eine Rolle, hinter der das wahre Selbst verschwindet.
So wird Scham nicht verarbeitet, sondern organisiert. Sie wird zum inneren Zentrum, das nicht berührt werden darf – und das die Persönlichkeit unbewusst schützt. Ein Leben lang.
Stolz, Rückzug, Härte oder Kontrolle sind dann nicht Charakterzüge, sondern Schutzreaktionen, denn sobald jemand zu nahe kommt, droht nicht Nähe, sondern Entlarvung.
Und genau davor schützt das System: Nicht fühlen. Nicht zeigen. Nicht fallen.
Aus dieser frühen Erfahrung wächst oft eine schambasierte Identität – eine leise, dauerhafte Grundüberzeugung:
„Ich darf nicht so sein, wie ich bin.“
Das beschämte Selbst wird verdeckt, Rollen entstehen. Und mit ihnen: Strategien.
Viele Menschen entwickeln eine stolzbasierte Fassade – stark, kontrolliert, souverän.
Doch was sie eigentlich schützt, ist ein verletzlicher innerer Kern, der früh gelernt hat:
So wie ich bin, bin ich nicht richtig.
Der größte Trigger ist deshalb nicht die Ablehnung durch andere, sondern die Konfrontation mit der eigenen, tief verinnerlichten Selbstablehnung.
Was dabei aufscheint, sind genau die Anteile, die einst nicht willkommen waren – die man abspalten musste, um geliebt zu werden.
Diese inneren Schatten dürfen nicht entblößt werden und genau deshalb reagiert das System mit Rückzug, Wut oder Stolz.
Nicht, weil man stark ist, sondern weil man sich nie zeigen durfte.
Deshalb kann ein scheinbar harmloser Satz („Wer ist das?“) erlebt werden wie ein Angriff.
Nicht, weil man etwas zu verbergen hat, sondern weil sich die alte Angst meldet:
„Gleich sieht jemand, wer ich wirklich bin. Und das darf niemals passieren.“
In diesem Moment sieht Lars nicht Anna.
Er sieht die Mutter, die kontrolliert. Die Frau, die beschämt. Die Autorität, die über ihn urteilt.
Er reagiert nicht auf die Gegenwart, sondern auf das Echo seiner Vergangenheit.
Warum ist es so schwer, jemanden loszulassen, der uns nicht guttut?
Weil es sich nicht nur anfühlt wie ein Abschied von einem Menschen, sondern wie ein Abschied von uns selbst.
Tief in uns gibt es eine Wahrheit, die kaum jemand sieht:
Wir haben als Kinder nicht einfach „überlebt“ – wir haben uns aufgeteilt, gespalten in das, was sein durfte, und das, was zu gefährlich war zu fühlen.
Wenn die Mutter schrie, wenn der Vater strafte, wenn niemand kam, wenn wir weinten – dann war da Schmerz, der zu groß war für ein Kind.
Ein Schmerz, für den es keinen Halt gab. Keine Begleitung. Kein Mitgefühl.
Um damit weiterleben zu können, spaltete sich etwas in uns ab.
Ein Teil, der fühlte – und ein Teil, der überlebte.
So entstand ein inneres Schutzsystem:
Ein Ich, das sich anpasst, funktioniert, brav ist, ein Teil, der dafür sorgt, dass wir dazugehören.
Gleichzeitig entsteht auch ein weiterer innerer Anteil:
Einer, der sich mit den Eltern identifiziert – mit ihren Bewertungen, ihren Regeln, ihrer Kälte.
Wenn wir lernen, wie „sie“ zu denken und zu fühlen, scheint es, als könnten wir Kontrolle behalten.
Wir übernehmen ihre Stimmen und machen sie zu unserer inneren Realität.
So tragen wir nicht nur das verletzte Kind in uns, sondern auch die verinnerlichten Eltern.
Und mit der Zeit behandeln wir uns selbst so, wie sie uns behandelt haben: abwertend, streng, hart, fordernd.
Diese inneren Anteile – das verletzte Kind, die angepasste Version von uns, und die verinnerlichten Mutter oder Vaterfiguren leben weiter in uns.
In engen Beziehungen wirken sie oft im Verborgenen weiter:
Wir sprechen dann nicht nur mit unserem Partner, sondern auch mit einem Teil aus unserer Vergangenheit.
Wir reagieren nicht nur auf den Moment, sondern auf alte Rollen, die unbewusst wieder aktiviert werden.
Der Andere wird zum Spiegel oder sogar zur Bühne, auf der unsere inneren Figuren plötzlich wieder lebendig werden.
Wenn ein Partner uns schlecht behandelt, uns übergeht, kleinmacht, kalt ist – dann ist das oft nicht „neu“.
Es ist alt. Vertraut. Ein Echo von damals.
Wir erkennen es nicht bewusst, aber in uns flüstert ein leiser, alter Teil:
„So spricht man mit mir. So geht man mit mir um.“
Und so wird der andere Mensch nicht einfach nur ein Partner. Er wird ein Teil von uns selbst. Er trägt das, was wir in uns abgespalten haben. Unsere innere Mutter. Unser strenger Vater. Unser verletztes Kind. All das lebt im Außen weiter.
Was eine Trennung so schwer macht, ist nicht die Größe der Liebe, sondern die Tiefe der Verstrickung, die bis in unsere frühesten Bindungserfahrungen reicht.
Gehen heißt nicht nur:
„Ich gehe von dir.“
Sondern auch:
„Ich hole mich aus dir zurück.“
Das tut weh. Es fühlt sich an wie ein innerer Tod. Wie ein Zerreißen. Mit jedem Schritt lösen wir uns aus einer alten Verschmelzung mit dem Anderen. Wir hören auf, das zu suchen, was wir in uns selbst verloren haben.
Heilung beginnt dort, wo wir erkennen: Der tiefste Schmerz ist nicht der Verlust des Anderen, sondern die verlorene Verbindung zu uns selbst.
Jede Trennung, so unerträglich sie sich anfühlt, führt uns zurück zu dem Teil in uns, der einst zurückbleiben musste. Zu dem Kind, das gesehen werden will – nicht von außen, sondern endlich von uns. Heilung geschieht, wenn wir aufhören, alte Geschichten zu wiederholen, wenn Nähe nicht mehr Gefahr bedeutet, Rückzug kein automatischer Schutzreflex ist, und zwei Menschen beginnen, sich wirklich zu begegnen.
Nicht in Masken, sondern in der längst verlorenen Berührbarkeit unseres wahren Selbst.
Das ist Arbeit. Tief. Lang. Unbequem. Aber möglich.
Vielleicht ist genau diese Art von Beziehung – so herausfordernd sie auch ist – der Moment, in dem wir nicht nur dem anderen begegnen, sondern uns selbst.
Durch den Schmerz, der einst dazu geführt hat, dass wir uns von uns selbst trennen mussten, um geliebt zu werden.
Durch die Rollen, die wir spielten, um Zugehörigkeit zu sichern.
Durch Gefühle, die wir unterdrücken mussten, um Bindung nicht zu gefährden.
Wenn wir beginnen, all das zu erkennen, nicht zu verurteilen, sondern mit Mitgefühl zu begegnen, dann wird aus Wiederholung Erkenntnis.
Aus Anpassung Bewusstheit. Und aus Beziehung ein Weg zurück zu uns selbst.
Weitere Teile:
- Von Bindungstrauma zu Trauma Bindung – Einsamkeit zu zweit (Teil 1)
- Panikattacke in Rosa: Eine Beziehung wird zur Reinszenierung (Teil 2)
Weitere Informationen:
- Borderline Beziehung – Borderline und Bindung – Teil 1
- Borderline Beziehung – Partner – Teil 2
- Impulsive Borderline-Reaktionen als behandelbare Angstreaktionen
- Persönlichkeitsstörung – Borderline bei Männern
- Faszination Borderline – Tanz zwischen Assoziation und Dissoziation
- Borderline Co-Abhängigkeit – Interview mit Suzana Pavic
- Borderline Beziehung: Spaltung (Idealisierung / Abwertung)
Gastautor: @Suzana Pavic – Heilpraktikerin für Psychotherapie – Psychologische Beraterin – www.suzana-pavic.de
Als vertiefende Lektüre zum Thema empfehlen wir das Buch Am Ende bleibt der Schmerz.
Es richtet sich an Menschen, die die emotionalen und psychologischen Strukturen des Borderline-Syndroms umfassend erfassen möchten – jenseits oberflächlicher Klischees.
Die Autorin Suzana Pavic und der Co-Autor Ed Hellmeier beleuchten die Dynamiken von Borderline-Beziehungen differenziert und lebensnah. Ihre persönliche Perspektive verbindet sich mit fachlich fundierten Erläuterungen, wodurch das Buch sowohl Betroffenen als auch Angehörigen ein tieferes Verständnis ermöglicht. Fachtermini werden alltagsnah erklärt, verbreitete Fehleinschätzungen werden mit klaren Worten hinterfragt.
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